Zeitungsbericht Tauberzeitung 02.09.2000



J U B I L Ä U M / Seit 75 Jahren ein Niederstettener Jugend-Phänomen

Hier re - giert der Win - zer - tanz!

Von roten und grünen Traditions-Punks, Femegerichten, dem „Ernscht” und einem zauberhaften Reigen

Es ist so: Wenn du ihn einmal mitgemacht hast, wirst du ihn nie vergessen. Oder anders herum: Wenn du ihn nicht mitgemacht hast, bist du kein richtiger Steidemer. Kaum ein Großereignis in der Vorbach­talstadt ist so mit Emotionen besetzt, wie der Herbstfest-Winzertanz: Wenn du mit jeder Faser fühlen willst, was es heißt, jung zu sein, musst du ihn tanzen.


Michael Schwarz


Niederstetten • Was bringt junge Menschen dazu, einmal im Jahr ein rotes oder grünes Winzerkostüm anzuziehen und nach alter Väter Sitte an die 20 schweißtreibende Minuten lang zu „hopfen” (wie das Tanzen im Gruppenjargon heißt)? Alles biedere Traditionalisten? Warum fügt man sich für ein paar Probenwochen in ein recht patriachales Rollensystem, in dem der Anführer folgerichtig „König” heißt und man gleich einem Corps-Studenten sein Image mit dem (oder der) Bier-Maß aufpolieren kann?

Der Autor - Journalist, Pädagoge und ehemalig grüner Winzer - versucht gleich zu Beginn eine vielleicht zunächst kühn wirkende Antwort: Die Winzer­tänzer sind (obwohl sie keine bunt gefärbten Haare tragen) eine Art „Traditions-Punks”. Sie entwerfen eine eigene Kultur jenseits des Normalen, bürgerlich Üblichen. Das Erstaunliche: Die Traditionen der Gruppe lassen sich bis auf mittelalterliche Jugendkulturen zurückführen und weiter. Tiefen­psychologisch betrachtet sind sogar fast archaische Bräuche zu beobachten. Da ist natürlich der Tanz an sich. Ein im Grunde sehr einfacher „Verfolgungstanz”. Verschiedene Figuren wie „Stern”, „Spirale” und „Welle” verweisen aber auf einen ursprünglichen, ja kultischen Charakter. Dass der Tanz bei einem Wein- und Erntefest aufgeführt wird, verwundert da nicht. Alles dreht sich ganz konkret um Lebenslust, Fruchtbarkeit und Jugend. Doch der Winzertanz ist mehr als der große offizielle Auftritt am Herbstfest-Sonntag. Er beginnt mit dem Tag der Anmeldung. Mit dem Bangen, ob man auch wird mitmachen dürfen. Mit dem Ab­stecken seines Standes inner­halb der zwei mal 40-köpfigen Gruppe. Mit der „Musterung” durch den Leiter Ernst Wollinger und seine Frau Helga und durch die alt gedienten Tänzer. Wenn man's geschafft hat, gibt's dann eine rote oder eine grüne Tracht. Der Anfänger wird wohlwollend aufgenommen, aber er spürt genau, dass er der „Fuchs” ist. Und dass er hier eine Chance bekommt, sich zu bewähren. Dass man als rot kostümierter Winzer automatisch zum erklär­ten Gegner eines „Grünen” wird, ist selbstverständlich. Irgend­wann ist es kein Kostüm mehr, das man da trägt: Man ist ein Roter. Man ist ein Grüner.

Der Stiefel macht die Runde

Nach den Proben wird zur Freude der heimischen Gastwirte zumeist gezecht. Der Bier gefüllte gläserne Stiefel macht seine Runde. Die Gesetze sind hart: Wer ihn nicht austrinken kann, den bestraft der (vielleicht sogar gegnerische) Tischnachbar und man bezahlt die nächste Zeche. Wer den Stiefel jedoch schafft, wird in den höchsten Tönen gelobt und bekommt einen positiven Vermerk im Trinkbüchlein. Dass man „seine” Winzerin schließlich - nicht nur, wenn sie schwankt - nach Hause bringt, ist auch selbstverständlich.

Am Abend vor dem Auftritt schließlich wird mit Wein gefeiert. Mittlerweile findet dieses nichtöffentliche Fest in den steinernen Gewölben des Schlosses statt, wo die Winzer quasi im Schoß der Erde zusammensitzen, ehe sie der Morgen als Kandidaten der großen Bewährung - des Winzertanzes - gebiert. Alle künstliche Feindschaft ist dann vorbei. Und ein kleines Städt­chen hört es laut aus 80 Kehlen: „Hier regiert der Winzertanz!”

In dieser Nacht vor dem Sonntag fand einmal Mitte der 90-er Jahre bei Kerzenschein eine Art Femegericht statt, bei dem Tänzer und Tänzerinnen, die sich nicht recht einordnen konnten oder wollten, mit scherzhaften Strafen belegt wurden. Derartiger Ulk mit ernstem Hintergrund und einiger Pein für die „Sünder” ist heute noch fester Brauch, wenn er auch eher beim Abschluss­ausflug stattfindet.

Instinktiv und unbewusst haben die Winzertänzer hier eine fast vergessene süddeutsche Sitte wieder aufleben lassen: Das so genannte „Haberfeldtreiben” ist als Volksjustiz für unsoziales Verhalten bis Ende des

19. Jahrhunderts überliefert. Das Aussprechen von Verwarnungen erfolgte auch damals durch die dörfliche Burschenschaft. Der Wahrung von Ordnung und (Gruppen-) Recht dienen fast alle Winzertanz-Regeln. Und das ist nur konsequent, denn es darf nicht sein, dass der Tanz misslingt, weil einzelne aus der Reihe tanzen.

„Es gibt einen Ehrenkodex, wenn man das Kostüm trägt”, sagt auch Ernst Wollinger. Der „Ernscht” leitet seit über drei Jahrzehnten den Tanz, seine Frau Helga wacht über die Kostüme und betreut die Winzerinnen bei sämtlichen Sorgen. Wollinger „ist stolz auf seine Tänzer.”. Wenn er das sagt, meint man einen Vater über seine Kinder reden zu hören.

Und darin liegt eines der größten offensichtlichen Ge­heimnisse des Winzertanzes. Der „Ernscht” ist - ohne es zu wissen und noch weniger hören zu wollen - ein pädagogisches Naturtalent. „Die Jugend von heute” hält er nicht für besser oder schlechter als die von früher. Dass jemand hin und wieder über die Stränge schlägt, stört ihn nicht. Jeder kann sein, wer er ist. Wollinger steht nur für eine einzige Sache, für die aber steht er wie ein Fels in der Brandung: Zusammen können wir es schaffen! Und unter diesem Motto trägt jeder soviel Verantwortung, wie er tragen kann. Sich selbst zu liebe. Und für den Ernscht.

Faszinierende Truppe

 

 

Wie war das noch mal mit den Traditions-Punks? Wer als Außenstehender auf die Winzer trifft, betrachtet sie mit Neugier und etwas fasziniertem Horror. Sie wirken wie eine ungeheuere „starke Truppe” und das sind sie auch. Die gleichen jungen Leute, die man vielleicht von woanders kennt; erkennt man als Winzer kaum wieder. Sie haben eine besondere Kraft. Sie sind ein einziges, kollektives Symbol für Leidenschaft, für Leben, für Jugend.

Wenn du ihn einmal mitgemacht hast, wirst du ihn nie vergessen. Dieser Tanz und das Drumherum können dich im Innersten deines Wesens so begeistern, dass du mit diesem zauberhaften Reigen gar nicht mehr aufhören willst. Und wer will das schon: Aufhören mit der Jugend?